Berlin,
25. November 2024
Mit „Wüstenradar“ hat die Hamburg Media School die erste bundesweite Studie zum Zeitungssterben in Deutschland vorgelegt. Die Pionierstudie untersucht die möglichen Folgen einer Schwächung der Lokalpresse für das demokratische Gemeinwesen in Deutschland. In Kooperation mit Netzwerk Recherche und Transparency International Deutschland unterstützen wir diese Untersuchung.
Die Zahl der Einzeitungskreise in Deutschland hat in den vergangenen 30 Jahren deutlich zugenommen. Zu diesem Ergebnis kommt die „Wüstenradar“-Studie, die heute in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wird. In fast jedem zweiten Landkreis gibt es aktuell nur noch eine eigenständige Tageszeitung. Die Studie wurde von Forschenden der Hamburg Media School durchgeführt, unterstützt durch Netzwerk Recherche, die Rudolf Augstein Stiftung und Transparency International Deutschland.
Rückgang der Lokalzeitungen und drohende Nachrichtenwüsten
Anlass der Studie war die seit Jahren geführte Diskussion über drohende „Nachrichtenwüsten“ – Regionen ohne täglich erscheinende Lokalpresse. Wie weit Lokalzeitungen in West- und Ostdeutschland tatsächlich noch verbreitet sind, war bisher unklar. Diese Lücke schließt der „Wüstenradar“: Die Studie erfasst systematisch die Zahl der wirtschaftlich unabhängigen gedruckten lokalen Tageszeitungen auf Kreisebene von 1992 bis 2023.
Ergebnisse und Handlungsempfehlungen
Die Daten zeigen, dass es auf Landkreisebene in Deutschland noch keine Nachrichtenwüsten gibt. Gleichwohl macht die Studie einen erheblichen Rückgang lokaler Zeitungen aus, insbesondere in ländlichen Regionen Westdeutschlands ist eine zunehmende „Versteppung“ vorzufinden. Zwar sind bisher keine negativen Auswirkungen auf politische Partizipation oder andere Aspekte des demokratischen Gemeinwesens feststellbar, jedoch warnen die Autor*innen davor, Entwicklungen wie in anderen Ländern zu unterschätzen. „Aus der internationalen Forschung wissen wir sehr genau, welche Auswirkungen fehlender Lokaljournalismus auf die Funktionsfähigkeit der Demokratie und das Gemeinwesen haben kann: abnehmende politische Partizipation, mehr Polarisierung und eine höhere Wahrscheinlichkeit für Fehlverhalten in Wirtschaft und Politik“, konstatiert Dr. Christian Wellbrock, Leiter der Studie von der Hamburg Media School.
Sabrina Maaß von der Hamburg Media School betont: „Für die Zukunft des Journalismus ist eine verlässliche Datengrundlage als Basis für evidenzbasierte Medienpolitik und fundierte Strategieentwicklung in Medienorganisationen von hoher Relevanz. Deutschland ist in dieser Hinsicht im Vergleich zu anderen Ländern eher schlecht aufgestellt. Mit dem Wüstenradar erheben wir systematisch die Verbreitung des Lokaljournalismus in der Bundesrepublik über mehrere Jahrzehnte und wollen damit zu einer Verbesserung der Datenlage beitragen.“
Vor dem Hintergrund internationaler Erkenntnisse schlägt die Studie politische und zivilgesellschaftliche Maßnahmen vor, um der Entstehung von Zeitungswüsten entgegenzuwirken. Diskutiert werden die Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Journalismus, Innovationsförderungen, Anreize zur Beschäftigung von Journalist*innen und die Stimulation der Nachfrageseite etwa durch Konsumgutscheine.
Stephanie Reuter, Geschäftsführende Vorständin der Rudolf Augstein Stiftung, unterstreicht: „Lokaljournalismus gehört zur demokratischen Daseinsvorsorge. Es braucht jetzt den sektorübergreifenden Schulterschluss, um zu verhindern, dass auch in Deutschland Nachrichtenwüsten entstehen – und mutige politische Weichenstellungen. Der Wüstenradar zeigt: Noch ist es nicht zu spät. Wir unterstützen diesen Prozess als Stiftung und zeigen mit dem Media Forward Fund beispielhaft, wie kluge Förderinstrumente aussehen können. Förderinstrumente, die die journalistische Unabhängigkeit und Staatsferne garantieren.“
Fallstudien als Lichtblick und Mahnung
Ein weiterer Bestandteil der Studie sind journalistische Fallstudien aus Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg, die zeigen, wie lokale Medienmärkte neue Modelle erproben. Thomas Schnedler, Co-Geschäftsführer von Netzwerk Recherche, erklärt: „In drei journalistischen Fallstudien porträtiert der Wüstenradar lokale Medienmärkte, die Wege in die Zukunft weisen. Das macht auf der einen Seite Mut, weil dort neue Modelle wie der gemeinnützige Journalismus ausprobiert werden. Auf der anderen Seite zeigen die Fallstudien, wie schwer es die investigative Recherche vor Ort hat, weil zu oft Zeit und Geld dafür fehlen. Unsere Aufgabe bei Netzwerk Recherche ist es, die Wächterfunktion des Lokaljournalismus zu stärken, zum Beispiel durch Recherche-Stipendien, Beratungen, Fortbildungen und Vernetzung.“
Die Initiatoren der Studie sind sich einig: Deutschland befindet sich in einer Situation, in der demokratiegefährdende Entwicklungen in einzelnen Regionen noch verhindert werden können – vorausgesetzt, Politik, Medienpraxis und Zivilgesellschaft handeln gemeinsam und entschlossen.
Anlässlich der Vorstellung der Ergebnisse in der Landesvertretung Hamburgs in Berlin sagte Hamburgs Kultur- und Mediensenator Dr. Carsten Brosda: „Mit dieser Studie haben wir erstmals ein gesichertes Faktenfundament für die medienpolitische Diskussion über die Zukunft des Lokaljournalismus. Die Ergebnisse zeigen zwar, dass wir – noch – keine Nachrichtenwüsten in Deutschland haben, wir aber ein kontinuierliches Sterben der lokalen Medienlandschaft feststellen müssen. Ohne eine fundierte journalistische Berichterstattung vor Ort bricht auch eine wichtige Säule der Demokratie weg. Das ist eine dringende Warnung an die Medienpolitik und ein Auftrag, die Bedingungen des Journalismus vor Ort zu verbessern. Dies ist aber auch eine Mahnung für uns alle, dass uns der lokale Journalismus etwas wert sein muss.“
Hamburg,
4. Oktober 2024
Für Demokratie und gegen Desinformation: Parlamentarischer Abend zu russischem (Exil-)Journalismus in Deutschland
In der vergangenen Woche fand der erste Parlamentarische Abend des JX Fund in Berlin statt. Als Vertretende der Gesellschafter*innen des JX Funds sprachen Katja Gloger, Vorstandsprecherin von Reporter ohne Grenzen Deutschland und Stephanie Reuter, geschäftsführende Vorständin der Rudolf Augstein Stiftung. Dr. Andreas Görgen, Amtschef der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, richtete ein Grußwort an die Gäste aus Parlament, NGOs, Stiftungen und Medien. Penelope Winterhager, Geschäftsführerin des JX Funds, stellte die Studie „Locking Down the Windows“ zur aktuellen Lage unabhängiger russischer Medien im Exil vor.
Diese Medien sind die einzigen unabhängigen Stimmen, die das russische Publikum noch erreichen können. Gleichzeitig sind sie ein wichtiger Partner der westlichen Berichterstattung über Russland: ohne sie hätten viele internationale Medien Mühe, über die Geschehnisse in dem zunehmend abgeschotteten Land zu berichten.
„Aus Deutschland mussten in der Zeit des Nationalsozialismus viel zu viele der klügsten Köpfe ins Exil gehen. Heute ist Deutschland ein freies Land, das denen Unterstützung bietet, die aus ihrem Exil hier Licht ins Dunkel autoritärer Regime zu bringen.“
– Dr. Andreas Görgen für die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien
Der Kreml gibt 2024 über 2 Milliarden Euro für Desinformation, Propaganda und Zensur aus. Die 66 unabhängigen russischen Exilmedien, die der JX Fund für die Studie untersucht hat, müssen im gleichen Zeitraum mit lediglich rund 41 Millionen Euro auskommen, um dem etwas entgegenzusetzen. Sie halten dem Zensurregime nicht nur stand, sondern sind auch innovativ und agil. Doch trotz großer Reichweite und ausgeklügelter Technologien bleiben sie verwundbar und verdienen sowohl eine stabilere Unterstützung als auch der Kooperation einer breiteren Palette von Akteur*innen – einschließlich großer Technologieunternehmen.
„Als Dechriffrierer der Enigmas des Putinschen Machtsystem helfen sie auch uns, unserer Gesellschaft. Sie setzen der Desinformation Wissen entgegen, Fakten und Einordnung. Sie sind innovativ und unerschrocken, verantwortungsvoll und hochprofessionell. Wir verdanken ihnen viel. Wir sind dankbar, mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen, von ihnen zu lernen.“
– Katja Gloger, Reporter ohne Grenzen Deutschland
Der JX Fund wurde geschaffen, um sich der Förderung von Exilmedien zu widmen – er ist ein Förderinstrument, das den besonderen Erfordernissen der Journalismusförderung gerecht wird: Unabhängigkeit und Staatsferne. Hier wirken verschiedene Akteursgruppen zusammen: Stiftungen, NGOs, Medienhäuser, Privatpersonen und die öffentliche Hand. Gegründet wurde er im April 2022 von Reporter ohne Grenzen, der Rudolf Augstein Stiftung und der Schöpflin Stiftung als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.
„Das Besondere: Wir haben ein Multi-Stakeholder-Modell zur Stärkung des Journalismus entwickelt – auf Augenhöhe, mit fest umrissenen Rollen. Die Förderentscheidungen trifft eine unabhängige Jury – nach klaren Kriterien. Vielleicht darf ich als geschäftsführende Vorständin, die sich seit Jahren in der Journalismusförderung engagiert, hinzufügen: Das ist ein Durchbruch, dass dies in der privat-öffentlichen Konstellation so großartig gelingt.“
– Stephanie Reuter, Rudolf Augstein Stiftung